Widerbart – Epipogium aphyllum

Der Widerbart (Epipogium aphyllum) ist eine seltene heimische Waldorchidee.

Der Widerbart – eine geheimnisvolle Waldorchidee

Blass und durchscheinend wie ein Geist schweben seine elfenbeinfarbenen Blüten über einem Moospolster im Wald. Rätselhaft und zerbrechlich, so als kämen sie aus einer anderen Welt – ist ihre Gestalt: Es sind die Blüten des Widerbarts (Epipogium aphyllum). Im englischen Sprachraum wird die mythenumwobene Pflanze schlicht Ghost Orchid genannt.

Nicht nur seine Erscheinung ist geisterhaft: Auch seine verborgene Lebensweise in dunklen, modrigen Urwäldern, seine bisweilen jahrzehntelang ausbleibende Blüte und die Tatsache, dass die Geisterorchidee ausserhalb ihrer Blütezeit unterirdisch- im Dunkeln des Wurzelreichs verborgen bleibt, machen den Widerbart so geheimnisvoll.

In Grossbritannien wird der Widerbart Ghost Orchid genannt. Ein trefflicher Name für diese geheimnisvolle Orchidee
Ghost Orchid – so lautet der englische Name dieser geheimnisvollen Orchidee.

Die seltene Geisterorchidee ist schwer zu finden

Der Widerbart hat mich immer fasziniert. Als ich mir mit 14 Jahren die ersten Bücher über die Orchideen der Schweiz gekauft habe, habe ich ihn in einem dieser Werke entdeckt— und war hin und weg von diesem eigenartigen Geschöpf. Seitdem geistert er in meinem Kopf umher und lässt mich nicht mehr los.

Viele hundert Kilometer bin ich seitdem, auf der Suche nach diesem Kobold, durch schattige Wälder gestreift. Dabei sind mir zahlreiche seltene Pflanzen und Waldtagfalter, sowie der Hirschkäfer und spezielle Pilze begegnet. Nicht aber der Widerbart. Ab und zu sah ich ein paar elfenbeinfarbene Pflanzen in der Ferne, die dem Widerbart aus der Distanz zum Verwechseln ähnlich sahen. Bei näherem Blick entpuppten sie sich jedes Mal als Fichtenspargel.

Portrait des Widerbart
Im tiefen, dunklen Wald blüht der Widerbart

Auf die richtige Fährte geleitet…

In den rund 30 Jahren meiner Suche habe ich das Pflänzchen niemals selbst gefunden. Erst der vertrauliche Hinweis eines leidenschaftlichen Feldbotanikers hat mich auf die richtige Fährte geleitet. Die Suche war allerdings mit Schmerz verbunden: Ein erster Hinweis führte mich an einen Berg im Simmental, wo ich mir bereits nach kurzer Zeit, beim Fotografieren des Netzblatts, die Knöchelbänder riss. Trotzdem schleppte ich mich die 700 Höhenmeter bis zum Standort empor. Da ich endlich eine verlässliche Koordinate hatte, musste es einfach sein! Koste es was es wolle… Aber am Standort angekommen; war vom Widerbart keine Spur.

Ein zweiter Trip brachte mich noch im gleichen Jahr an einen anderen Ort im Berner Oberland. Dort hatte ich endlich Glück!

Auch dieses Jahr habe ich diesen Standort voller Hoffnung aufgesucht. Schliesslich ist die Wahrscheinlichkeit auf viele blühende Pflanzen zu treffen in Jahren mit kalten Wintern und lang liegendem Schnee viel höher als in warmen Jahren. Auch häufige Niederschläge während des Frühjahrs und Sommers begünstigen in der Regel die Blüte. Meine Hoffnung wurde allerdings enttäuscht: Es standen nur ganz wenige und dazu kümmerliche Exemplare in Blüte. Nachdem ich die Stelle vergeblich in Augenschein genommen hatte, an der vor zwei Jahren noch eine grössere Gruppe stand, habe ich mich aus diesem Wald zurückgezogen um keine unnötigen Trittschäden zu verursachen.

Dafür standen in einem benachbarten Wäldchen plötzlich ein paar schöne Pflanzen.

Wie kleine Geister schweben die Blüten des Widerbarts über den Moospolstern

Nur in günstigen Jahren – und dann nur für wenige Tage bis Wochen im Jahr, verlässt der Widerbart die Dunkelheit des Erdreichs. Ein paar Tage lang hängen seine geisterhaften Blüten über den Moospolstern – kurz darauf verschwindet er wieder spurlos. Manchmal für Jahre.

Widerbart – Botanik / Systematik:

Ordnung:Spargelartige (Asparagales)
Familie:Orchideen (Orchidaceae)
Unterfamilie:Epidendroideae
Tribus:Gastrodieae
Gattung:Epipogium*
Art:Blattloser Widerbart (Epipogium aphyllum)

*Epipogium ist eine Gattung aus dem Tribus Gastrodieae die weltweit nur mit vier Arten vertreten ist. Die Arten besitzen kein Chlorophyll und sind deshalb nicht zur Photosynthese in der Lage. Sie ernähren sich als sogenannte Epiparasiten von Pilzen.

Beschreibung:

Der Widerbart ist ein blattgrünloser, 5-30cm hoher Rhyzomgeophyt. Er besitzt ein weit verzweigtes, an Korallen erinnerndes fleischiges Rhyzom mit dem er bei ungünstigen klimatischen Bedingungen jahrelang unterirdisch überdauern kann, ohne zu blühen.

Das Rhyzom kann 1 – 10, (sehr selten bis 30) Blütensprosse hervorbringen. Der runde, weisse Stängel ist oft schmutzig rot überlaufen und ist mit 1 – 3 Blattschuppen umhüllt. Der ährige Blütenstand trägt 1 – 6, bis maximal 10 Blüten.

Aufgrund seiner verzweigten Rhyzome steht der Widerbart manchmal in Gruppen zusammen.
Aufgrund seiner verzweigten Rhyzome steht der Widerbart manchmal in Gruppen zusammen.

Die sehr ungewöhnliche, hängende Blüte ist mit 2cm verhältnismässig gross und besitzt eine nicht resupinierte (= nicht gedrehte) Lippe, die nach oben gerichtet ist. Sie hat einen wulstig-krausen Mittelabschnitt und die Papillen sind himbeerrot gefärbt. Die beiden Seitenlappen sind nach unten gerichtet. Der Sporn ist länger und dicker als der Fruchtknoten und ist ebenfalls nach oben gerichtet und rötlich überlaufen. Er enthält nur wenig Nektar. Die Sepalen und Petalen sind mit 10-15mm annähernd gleich lang und hängen gespreizt nach unten, was der Blüte ein Oktopus ähnliches Aussehen verleiht.

Die gekrümmte Säule ist halb so lang wie die Perigonblätter, die Pollinarien sind lang gestielt mit einem gemeinsamen, herzförmigen, weissen Klebscheibchen das unter der Narbe liegt.

Die Blüten des Widerbart erscheinen in der Nahaufnahme fast transparent.
Die Blüten des Widerbart erscheinen in der Nahaufnahme fast transparent.

Der Widerbart wird durch Hummeln bestäubt. 1(Ackerhummel (Bombus pascuorum) und Erdhummel (Bombus terrestris))

Epipogium aphyllum ernährt sich holo-hetero-mykotroph: Das heisst; die Pflanze ist aufgrund des fehlenden Chlorophylls nicht im Stande, sich durch Photosynthese selbständig zu ernähren und bezieht ihre Nährstoffe als Epiparasit zeitlebens von einem Wurzelpilz (Mykorrhiza).

Standort und Verbreitung des Widerbarts:

Der Widerbart ist in weiten Teilen Europas und Vorderasiens verbreitet, fehlt jedoch in den mediterranen und kontinentalen Gebieten. Ostwärts ist er durch das temperate Asien bis nach Japan, Korea und Kamtschatka verbreitet, weiter südlich in Kaukasien und im Himalaya.

Epipogium aphyllum ist ein Bewohner feuchter und schattiger Laub- und Nadelwälder. Durch die Abhängigkeit vom Vorhandensein eines Wirtspilzes benötigt er Waldböden mit einer tiefgründigen Humusschicht und mit genügend Totholz. Er gedeiht sowohl auf kahlen Nadel- und Laubuntergründen als auch auf dichten Moospolstern. Als Wirtspilze werden Inocybe (Risspilze)- und Tricholoma (Ritterlinge)- Arten genannt.

Der Widerbart benötigt Standorte mit einer hohen Luftfeuchtigkeit. Zu trockene Sommer machen ihm zu schaffen.
Der Widerbart benötigt Standorte mit einer hohen Luftfeuchtigkeit. Zu trockene Sommer machen ihm zu schaffen.

Naturschutz und Gefährdung von Epipogium aphyllum

Trotz seines weiten Verbreitungsgebiets ist der Widerbart überall eine äusserst seltene Orchideenart. Seine Vorkommen sind auf weit verstreute Mikroreservate mit oft sehr geringer Individuenzahl beschränkt und weisen häufig grosse Lücken auf.

Seit den 80er Jahren sind die Bestände des ohnehin schon zuvor seltenen Widerbarts überall rapide zurückgegangen. Das mag einerseits mit einer veränderten Waldbewirtschaftung im Zusammenhang stehen – und andererseits mit den sich verändernden Klimabedingungen. Aus dem Schweizer Mittelland etwa ist der Widerbart mittlerweile vollständig verschwunden 2(Infoflora) und auch im Voralpengebiet und Jura gibt es nur noch ganz wenige Nachweise. Auch in Deutschland wird von einem Rückgang der Bestände um 80% gesprochen 3(Baumann 2005).

Es ist wichtig, bestehende Vorkommen durch eine schonende Waldbewirtschaftung zu schützen und eine Auflichtung der Standorte zu vermeiden. Die Rhyzome des Widerbarts sind zerbrechlich und reagieren empfindlich auf Trittschäden. So sind auch wir naturkundigen eine Gefahr für den Widerbart. Wir sollten uns nur sehr vorsichtig am Standort bewegen und eine angemessene Distanz zu den Pflanzen wahren. Ein gutes Fernglas tut oft auch seinen Dienst.

Résumé

Der Widerbart ist eine der ungewöhnlichsten und faszinierendsten Pflanzenarten unserer Breitengrade. Nur den wenigsten Naturliebhabern ist es vergönnt, die ausgesprochen seltene Pflanze einmal zu sehen. Oft verschwindet sie für Jahrzehnte aus einem bekannten Biotop – und plötzlich, wenn die Bedingungen stimmen, sind die Geister wieder da.

Die Seitenansicht offenbart den Widerbart als Gespenst...
Der Waldgeist

In Grossbritannien etwa, wird die Pflanze nur alle 20 – 30 Jahre nachgewiesen. Von 1987 – 2009 war sie verschwunden und von offizieller Stelle bereits für ausgestorben erklärt worden. Ihre Wiederentdeckung im Jahr 2009 löste unter Botanikern eine buchstäblich obsessive Euphorie aus und die Gebiete in denen die Ghost Orchid in früheren Jahren gefunden wurde, werden seither jährlich systematisch durchsucht. Vergeblich!4

Auch in meinem Kopf geistert dieses Fieber seit Jahren umher. Ich suche Epipogium seit einiger Zeit intensiv im Neuenburger-Jura, zu dem ich einen nahen Bezug habe. Hier wurde er früher an mehreren Stellen nachgewiesen – und ich weiss, dass es ihn irgendwo in diesem Gebiet noch geben muss. Für mich gibt es kaum einen grösseren Reiz, als diese Pflanze dereinst einmal an einem neuen Standort selbst finden zu können.

Und die Suche nach der Geisterorchidee hat mich vieles gelernt: Längst habe ich mich von der Erwartung gelöst, sie zu finden. Ich hoffe nur- und lasse mich treiben. Dabei entdecke ich manchmal ganz unverhoffte Schätze: So bin ich etwa auf interessante Epipactis-Arten gestossen. Einige von ihnen konnte ich noch nicht einmal sicher bestimmen. Aber wenn sich meine Vermutung in den nächsten Jahren bestätigen lässt, ist auch dies eine kleine Sensation.

Wer suchet der findet – und sei es etwas anderes

Verweise und Literatur

1Ulrich, Kleynen, Claessens – FloraCH 2020 (Seite 18-20)

2Verbreitungskarte Infoflora

3BAUMANN, H. 2005: Epipogium aphyllum SW. – In ARBEITSKREISE HEIMISCHE ORCHIDEEN (Hrsg.): Die Orchideen Deutschlands. – Uhlstädt-Kirchhasel: 433-437.

4The Ghost Orchid Project

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1 Kommentar zu „Widerbart – Epipogium aphyllum“

  1. Grüezi Adrian. Ich bin per Zufall via google auf Ihrer Seite gelandet und der Bericht zum Blattlose Widerbart hat es mir gleich angetan. Super geschrieben, mit den tollen Fotos aber noch viel besser. Ich suche selber auch regelmässig Orchideen und kann Ihre Leidenschaft darum gut verstehen. In diesem Frühjahr war ich auf der Suche nach blühenden Dingel, leider hab ich Blüte verpasst, wohl wegen des langen trockenen Wetters. Egal, ich suche weiter:-) Viel Spass weiterhin, ich schaue gerne wieder mal auf der Homepage rein! Grüsse Christian

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